Digitalisierung durch Corona: Für mehr weiblichen Einfluß

June 11, 2020

Krisen lassen uns wieder in alte Rollenbilder zurück fallen (1). Die Corona-Krise ist dabei keine Ausnahme - damit haben sich zahlreiche Artikel in den Medien in den letzten Wochen auseinandergesetzt (2). Durch die Mehrbelastung mit Haushalts- und Erziehungsarbeit von Frauen im Homeoffice fürchten ExpertInnen Rückschritte für die Gleichberechtigung. In den Krankenhäusern, Supermärkten oder Kindergärten stemmen teils unterbezahlte Frauen währenddessen einen Großteil der anfallenden Arbeit und sind dadurch zusätzlich einem verstärkten Infektionsrisiko ausgesetzt. Die Gefahr für häusliche Gewalt steigt durch Social-Distancing-Maßnahmen. Es ist wichtig, dass diese geschlechtsspezifischen Auswirkungen in der Öffentlichkeit problematisiert werden. Wir sehen ein weiteres Problem, das bisher im Zusammenhang mit Corona wenig diskutiert wurde, aber durch die gesellschaftlichen Veränderungen in Folge der Krise noch akuter wird - die Unterrepräsentation von Frauen in IT und Tech.

Deutschland steht unter Innovationsdruck

Auf der ganzen Welt müssen Unternehmen und Verwaltungen sich umstellen. Firmen schicken ihre MitarbeiterInnen ins Homeoffice, Zusammenarbeit findet online statt. Twitter kündigte schon an, dass MitarbeiterInnen auch nach der Krise nicht wieder ins Büro kommen müssen. Behörden digitalisieren ihre Angebote, Schulunterricht findet aus der Ferne mithilfe von Lern-Apps und Videokonferenzen statt. SchülerInnen, die zu Hause keinen Zugang zu Technik haben, verlieren den Anschluss im Homeschooling. Auch der Umgang mit dem Virus selbst ist durch digitale Lösungen geprägt: Corona-Tracking-Apps stehen in den Startlöchern, die Telemedizin gewinnt an Befürwortern. In Japan werden Gäste in Quarantäne-Hotels selbstverständlich von Robotern begrüßt. Generell werden Technologien durch Corona noch stärker in alle Aspekte des täglichen Lebens integriert werden. Deutschland war die letzten Jahre nicht gerade Digitalisierungs-Vorreiter. Gerade Deutschland steht daher vor einem großen Innovationsdruck.

Doch wer entwickelt diese Innovationen die unser Leben und Arbeiten formen?

In unserem Book Club haben wir “Invisible Women” von Caroline Criado Perez gelesen. Sie führt in ihrem Buch zahlreiche Studien auf, die die negativen Auswirkungen homogener Entwicklungsteams auf Produkte aufzeigen. Was passiert, wenn die weibliche Perspektive fehlt? Es fängt bei Kleinigkeiten an: In wie vielen Buchungsprozessen und Formularen ist “Herr” standardmäßig vorausgewählt oder ist “Herr” vor “Frau” positioniert. Das Wort “Interviewpartnerin” wird von der Rechtschreibprüfung unseres Texteditors als falsch markiert und in “Interviewpartner” korrigiert. Es geht weiter mit virtuellen Assistenten, die bis vor kurzem nur weibliche Stimmen hatten und Frauenstimmen nicht so gut verstehen wie männliche. So kam 2017 eine Studie (3) zu dem Ergebnis, dass Voice-Recognition-Software Frauen schlechter verstehen kann als Männer. Das kann passieren, solange die Stimmen-Korpora, die zum Training der KI genutzt werden, überwiegend aus einseitigen Daten bestehen. Algorithmen können Vorurteile und Stereotypen noch verstärken, wenn die Daten, mit denen sie gespeist werden, vorhandenen Sexismus in der Gesellschaft widerspiegeln - dann zeigt zum Beispiel die Suchmaschine zum Wort “Karriere” eher Bilder von Männern als von Frauen. Noch ernster wird es, wenn es um die Gesundheit von Frauen geht: Bei vielen Krankheiten weichen die Symptome von Frauen von denen von Männern ab, die als “typisch” und “normal” gelten und werden daher schlechter diagnostiziert. Das ist zum Beispiel bei einem Herzinfarkt der Fall - viele Frauen erleben “unspezifische” Symptome wie Übelkeit oder Schmerzen im Kopf statt Schmerzen in Brust und Arm (4). Es existieren offenbar noch signifikante Lücken im Wissen über den weiblichen Körper. Wenn nicht einmal ÄrztInnen den Frauenkörper ausreichend kennen, wie soll dann eine Künstliche Intelligenz Diagnosen treffen?

Es werden diverse Produktentwicklungsteams benötigt, um unbewusste Denkmuster aufzudecken. Bis 2016 wusste Siri nicht, was es heißt, vergewaltigt zu werden - nun kann sie die Telefonnummer von Polizei und Hilfsorganisationen vorschlagen. Wenn Smart Cities ausschließlich von Menschen gestaltet werden, die in ihrem Haushalt jemand anderen haben, der sich um den Haushalt und die Kinderbetreuung kümmert, drohen die Bedürfnisse von Menschen, die diese Care-Arbeit übernehmen, vernachlässigt zu werden. Je mehr Raum Technologien in unserer Gesellschaft einnehmen, desto wichtiger ist es, dass Frauen an Entscheidungen in diesem Bereich beteiligt sind und die Bedürfnisse der Hälfte der Bevölkerung nicht vergessen werden.

Die Corona-Krise ist eine große Herausforderung und sie verändert auch unsere Arbeit. Die IT- und Tech-Branche gewinnt weiter an gesellschaftlicher Relevanz. Wir arbeiten weiterhin daran, dass alle Geschlechter den gleichen Einfluss auf die Gestaltung von Zukunftstechnologien haben und freuen uns über jede Unterstützung. Lasst es uns wissen, wenn ihr Ideen habt, wie wir euch in dieser Zeit am besten helfen können! Letztendlich dürfen wir nicht vergessen: es tun sich auch Möglichkeiten auf und eine Krise birgt Chancen für positiven Wandel.

Links:

1 Criado-Perez, Caroline: “Unsichtbare Frauen - Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert”, btb, München, 2020, S. 382

2 zum Beispiel Unbekannt: Corona: Eine Krise der Frauen, 12.05.2020; url: https://www.unwomen.de/helfen/helfen-sie-frauen-in-der-corona-krise/corona-eine-krise-der-frauen.html ODER Allmendinger, Jutta: Die Frauen verlieren ihre Würde, 12.05.2020; url: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-05/familie-corona-krise-frauen-rollenverteilung-rueckentwicklung (Zugriff: 11.06.2020)

3 Gender and Dialect Bias in YouTube’s Automatic Captions https://www.aclweb.org/anthology/W17-1606.pdf

4 Saini, Angela: “Inferior - The True Power of Women and the Science that Shows It”, 4th Estate, London, 2017, S. 59f